Die Eselin, ohne die es keinen Palmsonntag gäbe

Ein anmutiges Bild: der Herr kommt auf dem Rücken einer Eselin in seine Stadt Jerusalem, bescheiden, eines gewalttätigen Aufstandes unverdächtig, aber kraftvoll genug, um Weltgeschichte zu schreiben. Die Sanftmut ist die Stärke Jesu.

Sollte die heilige Familie mit einem Esel unterwegs gewesen sein auf dem Weg nach Bethlehem, so trug also schon einmal ein Esel diesen Herrn in diese Stadt, allerdings vor seiner Geburt im Schoß seiner Mutter, und damals war Jerusalem höchstens die letzte Rast vor dem Zielort Bethlehem.

Der geneigte Kenner der Heiligen Schrift erinnert sich auch an die Eselin des Sehers Bileam, eines Propheten, der das Volk Gottes im Auftrag des Moabiterkönigs verfluchen sollte, es statt dessen aber nur segnen konnte. Und im Laufe dieser Ereignisse beginnt die Eselin zu sprechen (vgl. Buch Numeri, Kapitel 22 f), um deutlich zu machen, dass Gottes Weisheit, die der ganzen Schöpfung innewohnt, oft unsere menschliche Erkenntnis übersteigt. 

Der „Palmsonntagsweg“, den Jesus auf dem Rücken der Eselin zurücklegt, führt von Betfage am Ölberg an den vielen Gräbern entlang hinab in das Kidrontal. Auf der Höhe gegenüber des Tempels hielt Jesus inne und weinte über die Stadt. Er verfluchte sie nicht, obwohl sie sein Schicksal bedeutete: er segnete sie: „Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was Frieden bringt… weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“ (Lk 19,42-44)

Bei einer früheren Gelegenheit schon hatte Jesus die Stadt beweint: „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. Siehe, euer Haus wird euch selbst  überlassen. Ich sage euch: Ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis die Zeit kommt, in der ihr ruft: Gepriesen sei er, der kommt im Namen des Herrn!“ (Lk 13,34.35) Jetzt, am Palmsonntag, hatte sich diese Prophezeiung erfüllt.

All das hat uns bewogen, die Eselin des Palmsonntages zu den Ereignissen zu befragen:

 

Du: Guten Morgen, lieber Palmesel. Was hat das alles zu bedeuten hier?

Palmesel: Das Zeichen ist doch so deutlich. Versteht ihr es immer noch nicht? Der Herr macht ernst. Er ist sich nicht zu fein, sich auf mich zu setzen. Ich bin kein Kriegstier, kein Kampftier. Ich kann nur Lasten tragen. Und hier trage ich die ganze Last der Erlösung der Welt. Jetzt geht es ums Ganze.

Du: Wohin geht denn dieser „Triumphzug“? Wollt ihr den Tempel besetzen?

Palmesel: Nein. Der Weg ist das Ziel. Wir haben auf diesem Weg in das Kidrontal zwar den Tempel vor Augen, aber zunächst geht es an den vielen Gräbern vorbei. Das ist auch kein Zufall. Jesus ist sich der Realität des Todes bewusst. Er denkt an die vielen Menschen in ihren Todesleiden und -kämpfen. Und es geht wahrlich steil hinab. Ich muss auf meine Schritte achten, damit ich nicht rutsche und den Herrn gefährde. Aber auch das hat er sich so ausgesucht: Hier beginnt der Weg nach unten, in die Erniedrigung, in die Tiefen unseres Menschseins, bis in den Tod.

Du: Warum lässt sich dann Jesus feiern in seiner Erniedrigung?

Palmesel: Er fordert ja nicht seine Huldigung. Es sind die Menschen, die das Zeichen setzen, weil sie verstehen: Dieser ist wirklich der Friedenskönig. Sicher neigen sie, wie alle Menschen, zur Übertreibung. Heute huldigen sie ihm, in ein paar Tagen fordern sie schreiend seinen Tod.  Und diese Stadt ist ein heißes Pflaster. Ich spüre das sehr wohl unter meinen Hufen. Hier ist nichts mehr übrig von der Beschaulichkeit am See Genezareth. 

Du: Aber auch Jesus hat doch Jerusalem bewundert und in ihr die Stadt Gottes erkannt.

Palmesel: Das schon, er hatte sogar schon das himmlische Jerusalem angekündigt. Aber er hat auch das Leid dieser Stadt gespürt, ihre drohende Vernichtung, ihre Untreue gegenüber Gott. Er hat um sie getrauert, wie man trauert um eine verlorene Heimat. Und das konnte er nicht schöner sagen als mit Bildern aus der Welt von uns Tieren: Wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt, so wollte diese Stadt ihren Söhnen und Töchtern Sicherheit und Frieden schenken. Ich habe ihn dabei weinen gesehen.

Du: Ein weinender König auf einem Esel – was für ein Schauspiel!

Palmesel: Jetzt begreifst Du langsam die wahre Tragik dieses Palmsonntagmorgens. Es war zum Davonlaufen. Ich habe es selbst fast nicht ausgehalten. Aber die Demut, mit der Jesus selbst diesen Weg ging, hat mich dann doch überzeugt. Wer so auf den Vater im Himmel vertraut, der kann sich auch auf diesen Weg begeben. 

Du: Aber ich hätte es auch verstanden, wenn Jesus kehrt gemacht hätte.

Palmesel: Dann wäre er nicht Jesus gewesen. Er verfluchte die Stadt nicht, in der so viel bitteres Leid auf ihn wartete. Er segnete sie. Und er segnete mich. Und er segnet dich. Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn. Die Kleider auf der Straße, der Palmzweig in der Hand, beides sagt dir: Du selbst sollst die Straße oder der Weg sein, auf dem Jesus zu uns kommt. Du selbst sollst ihn begrüßen und deine Tore für ihn öffnen. Und du darfst teilhaben an seinem demütigen Sieg. Die Palme ist immer auch ein Siegeszeichen. Und vergiss die Eselin nicht! Ohne mich wäre der Palmsonntag den Menschen nicht halb so gut im Gedächtnis geblieben…

Du: Danke dir! Jetzt bist du mir noch wertvoller geworden!

 

Autor: Pfr. Martin Dörflinger